10
Jude traf sich mit Mary in Goodenough’s, einem Restaurant mit Bar so nah an seiner Wohnung, dass sie nach dem Dienst immer wieder dorthin gingen, um sich in Ruhe zu unterhalten. Er achtete darauf, vor ihr dort zu sein. Aus dem schalen frühen Abend ging er hinein und hoffte, dass der Geruch nach Röstzwiebeln und Texasgrill ausreichte, um ihn in bessere Laune zu versetzen. Aus der Nähe drang ihm der saure Geruch nach verschüttetem Bier und Margarita in die Nase.
Keiner der Gerüche übte die erhoffte Wirkung aus, und darum blieb Jude nicht stehen, als Cole, der Barkeeper, ihm zunickte und ihn leise begrüßte, ein vorsichtiger Auftakt zur Wiederaufnahme des ältesten, am längsten anhaltenden Wettbewerbs in Spötteleien. Cole grinste selbstironisch, während mit seinem weißen Handtuch energisch eine Glaskanne polierte. Mit seinen kummervollen, leidenden Augen, naturgetreu einem Bluthund nachempfunden, wie Jude fand, verfolgte er, wie Jude sich ans Ende der Theke bewegte. Cole wartete, bis Jude sich gesetzt hatte; dann wies er mit seinem breiten Finger fragend auf den Zapfhahn für Red Hook.
Jude nickte. An diesem Ende der Theke war die Musik nicht so laut, weil einer der Lautsprecher ausgefallen war. Sie klang belegt. Cole stellte das Bierglas auf einen Untersetzer, bemerkte Judes Gesichtsausdruck und verschwand wieder, um noch mehr Glaskannen aus dem Geschirrspüler zu holen. Jude musterte die Batterien kalter Flaschen mit Bieren, Fruchtsäften und Spirituosen über ihnen, eine Reihe mit verschiedenen Formen, Größen, Farben und Verheißungen nach der anderen. Wie ein wertvoller Schatz wirkten sie. Hinter sich hörte er Billardkugeln klicken, und ein Queue fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Die Spieler redeten mit leisen Stimmen, die er nicht verstand.
Er sah nach, was sein Datapilot ihm über Fort Detrick zu sagen hatte. Er war noch nicht sehr weit vorgedrungen, als Mary auftauchte.
»Hallo, Cole!«, rief sie.
»Mary, Mary«, entgegnete Cole, »was macht der Garten?«
Jude erhob sich und umarmte sie zur Begrüßung. Sie hauchten sich Küsschen auf die Wangen, dann setzte sie sich, kühl und anmutig. In ihren blauen Augen stand das verschwörerische Funkeln, das stets seine Stimmung hob.
»Tut mir Leid wegen Florida«, war das Erste, was sie sagte. »Ohne dich habe ich es irgendwo vermasselt. Am Ende ging alles so schnell. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie uns so plötzlich noch durch die Lappen gehen könnten. Sie müssen einen Tipp bekommen haben.«
»Ja.« Er nickte. »Entschuldigung angenommen. Ich habe deinen Bericht gelesen. Brutaler Break.«
»Wir haben deinen Mann wieder verloren«, sagte sie und hielt aufmerksam nach seiner Reaktion Ausschau.
Cole nahm mit einem anderen Handzeichen ihre Bestellung entgegen. Beide beobachteten sie, wie er den Cocktail mixte und schüttelte.
»Kommt mir schon schicksalhaft vor«, sagte Jude. »Ich glaube manchmal, es ist uns einfach nicht bestimmt, ihn zu bekommen. Ich vermute, dass er der Regierung zu nützlich ist. Jemand hält schützend die Hand über ihn. Ich werde Perez als Nächstes um ein paar alte Fälle bitten, die nicht mit ihm in Zusammenhang stehen. Irgendwas Einfaches, einen Betrug.«
»Wie wär’s mit willkürlicher Kontrolle der Körperchemie?«
»Ist das schon wissenschaftlich?«
Mary ließ ihre weißen Zähne blitzen und lachte. »Wird es bald sein, denn es ist ihnen gelungen, die NervePath-Systeme zu perfektionieren. Wenn du erst deine Drüsenfunktionen durch Micromedica steuern kannst, dann dopst du dich mit deinen eigenen Hormonen, solltest du gerade mal eine olympische Höchstleistung erbringen müssen, meinst du nicht auch?«
»Gibt dem Wort Selbsthilfe eine ganz neue Bedeutung.«
»Und die Pharmaimperien werden auf den Zug aufspringen und eine Fahrkarte nachlösen müssen.« Als ihr Martini kam, trank sie sofort einen Schluck und fischte die Olive heraus, um sie zu verspeisen. »Was also hältst du von dieser Einladung nach Utah?«
Jude hatte keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Nicht Dugway, sondern Fort Detrick ging ihm nicht aus dem Kopf. »Wieder so eine Technoporno-Show der Armee«, sagte er. »Hat wahrscheinlich was mit der B-Waffen-Bedrohung zu tun.« Sie waren schon oft zu Vorführungen eingeladen worden, wo eine neue Errungenschaft der Rüstungsforschung, sei es zur Abwehr oder zum Angriff, einem ausgewählten Publikum vor die Füße geworfen wurde. Sie hatten Zutritt, weil ihre Aufgabe darin bestand, rechtzeitig dahinter zu kommen, falls jemand ähnliche Systeme auf den schwarzen Markt bringen wollte. Jude hatte noch nie B-Waffen außerhalb einer BSL-4-Sektion gesehen, und er legte Wert darauf, dass es so blieb. »Wann ist das denn?«
»In ein paar Tagen. Perez schickt dir die Einzelheiten.« Mary schüttelte sich das Haar hinter die Schultern zurück. »Aber genug davon. Hast du dieses Gerücht über die Experimente in Deer Ridge gehört? Hast du da nicht Familie?«
Jude erschrak, aber er wusste es zu verbergen. Er hatte einige Berichte auf den kleineren oder schreienderen Nachrichtenkanälen gesehen, und der Vorfall fand in den Überblicken Erwähnung, die über die FBI-Datapilots verbreitet wurden. »Ja. Meine Schwester. Meine Halbschwester. Sie wusste nichts davon.«
Mary wirkte enttäuscht. »Ich hatte gehofft, wir finden dort einen Hinweis, irgendeinen Fingerzeig.«
»Wenn«, entgegnete Jude, »dann wird es eine Regierungsangelegenheit sein. Genau wie in den Iwanow-Fällen. Uns ist es noch nie gelungen, eine andere Behörde erfolgreich wegen Nutzung oder Entwicklung vor Gericht zu bringen. Sie ziehen immer wieder das Ass aus dem Ärmel, das sich ›Interesse der nationalen Sicherheit‹ nennt.« Ergriff nach ihrer Hand, die auf der Kante der Theke ruhte, und drückte sie kurz, um Mary zu trösten.
»Tut mir Leid, ich benehme mich wie ein Pferdehintern, ich weiß.«
»Vielleicht hast du Recht, und es ist wirklich nichts daran.« Sie zuckte mit den Schultern.
Er betrachtete sie eingehend, während sie beide einen Schluck tranken. Sie wirkte nicht besorgt. Er wünschte, er könnte mit seinem pingeligen Verfolgungswahn aufhören. Er brauchte dringend Hilfe, und sie bewahrte einen kühlen Kopf, wenn es kritisch wurde. Er vertraute ihr. Warum also konnte er nicht darüber reden, was ihm auf der Leber lag?
»Sie ist aber spurlos verschwunden, ohne jemandem zu sagen, wohin«, sagte er versuchsweise.
»Sie? Meinst du deine Schwester?«
»Ja. Ich habe ihr meine Wohnung gelassen, während ich weg war, aber als ich zurückkam – nada. Nicht mal ein Zettel. Aber sie ist schon immer unberechenbar gewesen. Sie könnte einfach weggefahren sein, und in paar Tagen steht sie wieder vor der Tür. Das macht sie oft.«
»Du hörst dich aber nicht so an, als würdest du das glauben.« Mary leerte ihren Martini und wischte die Finger sorgsam an der Papierserviette ab, nahm sich für jeden einzelnen einen Augenblick Zeit.
»Nicht ganz. Wegen dieser Sache könnten die Medien ziemlich wild werden. Ich traue ihr zu, dass sie sich darauf stürzt, um die Sache der Indianerbewegung voranzubringen. Sie könnte mit ein paar Aktivisten eine Art Protestveranstaltung organisieren.«
Mary nickte. »Sie hätte nie im Reservat bleiben müssen, nicht wahr? Du hast mir schon oft erzählt, du schickst ihr Geld, und sie schickt es zurück.«
»Uncle Sams schmutziger Dollar«, stimmte Jude ihr zu und rümpfte die Nase, weil er an White Horses knappe Ablehnungsbriefe denken musste. »Sie glaubt, sie unterschreibt automatisch einen Schuldschein, wenn sie es annimmt.«
»Wer ist das gemeinsame Elternteil?«
»Vater. Magpie Jordan. Wurde manchmal Joe genannt, hatte aber nie was für christliche Namen übrig.«
»Du hast den gleichen Namen als zweiten Vornamen.«
»Ja. Aber ich benutze ihn nicht. Außer, wenn White Horse in der Nähe ist. Sie mag meinen englischen Namen nicht sehr. Mom hat ihn ausgesucht, und meine Mutter kann White Horse erst recht nicht ausstehen.«
»Hat dein Name irgendeine tiefere Bedeutung? Außer ›Elster‹? Das hast du mir nie erzählt.«
Jude grinste sie an. »Magpie ist ein Name für jemanden, der gern Geschichten erzählt und lügt. Dad verstand sich ziemlich gut darauf. Sehr lustige Geschichten. Meine Mom fand, er sollte sie aufschreiben, aber das hat er nie getan.«
»Schade.« Mary legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.
»Es ist lang her. Noch einen?«
»Warum nicht? Bestell schon mal.« Sie stand auf und ging sich pudern.
Während sie fort war, sagte sich Jude, dass er ihr vermutlich reinen Wein einschenken würde. Ihr etwas zu verschweigen lag ihm wie eine schwere, fast schmerzhafte Last auf den Schultern, und er fühlte sich unglaublich müde. Er sorgte sich, White Horse könnte in solch großen Schwierigkeiten stecken, dass auch er ihnen nicht beizukommen vermochte. Er wusste nicht, was er unternehmen sollte, um ihr zu helfen.
Er bestellte und blickte, während er wartete, zum Bildschirm über sich hoch, auf dem die Baseball-Höhepunkte des Jahres liefen, als sein Pad einen Dreifachton plärrte.
Er knipste das Gerät an und las die eingetroffene Nachricht – eine kodierte Zeile, eine Privatmitteilung.
Sie stammte von einem Kontaktmann in den Labors der Centers for Disease Control[2] in Atlanta. Der Mann hatte ihm das eine oder andere Mal bereits geholfen.
Neue Verbindung nach Russland. Müssen uns treffen.
Die Nachricht war als dringend gekennzeichnet, Flugzeiten und eine Reihe von Instruktionen waren angehängt.
Jude steckte das Pad wieder ein, als Mary zurückkam.
»Post? Jemand, den ich kenne?«, fragte sie leichthin und blinzelte.
Eine Sekunde lang störte ihn an diesem Blinzeln etwas. Es war, als flirtete sie, und Mary flirtete gewöhnlich nicht. Es war wie ein Zeichen, von dem Jude nur nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Noch immer hatte er die Nachricht aus Atlanta nicht verdaut. Er schüttelte seine Befremdung ab.
»Niemand Nettes«, sagte er und griff nach der Speisekarte, als fiele es ihm erst jetzt ein. Dadurch brauchte er ihr nicht in die Augen zu blicken und sich schonungslos von ihr ausfragen zu lassen. Er schwieg. »Nach wie weit oben sollen wir mit unseren Untersuchungen eigentlich gehen?«
Sie lehnte sich mit gespielter Überraschung zurück. »Nach wie weit oben? So weit wie nötig. Wir sind dazu da, das Gesetz bei jedem durchzusetzen.«
»Richtig.« Er klappte die Speisekarte auf. »Willst du hier was essen?«
»Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Komm schon, Jude. Was hast du auf dem Herzen?«
Er starrte auf die Liste. »Ich glaube, etwas steht mir bis zum Hals, aber ich bring’s nicht über die Lippen«, sagte er schließlich.
Sie nickte. »Nur weiter.«
»Ich weiß nicht, ob das richtig wäre.« Er steckte die Speisekarte in den Ständer zurück und schob ihn über die Theke von ihnen weg, dann erst wandte er sich Mary wieder zu. »Wir sind schon seit langer Zeit Freunde, und vermutlich ist es besser für dich, wenn du nichts davon weißt.«
»Jude, um Himmels willen.« Sie lächelte und stupste ihm mit der Spitze ihres weichen Schuhs gegen das Schienbein. »Lass mich dir helfen. Hat es mit White Horse zu tun?«
»Nicht nur.« Er faltete die Hände und wendete sie nach außen, streckte die Finger und hörte zwei Knöchel knacken. Er spürte, dass er an einem entscheidenden Punkt angelangt war, an einem Kreuzweg der Ereignisse, wo sein nächster Zug auf die eine oder andere Weise einen Augenblick in der Luft schwebte und sich dann unausweichlich in die Zukunft stürzte, ohne dass es einen Ausweg gab. Er seufzte; bei dieser Erkenntnis stockte ihm der Atem, und er fühlte sich hilflos. Wie jemand, der einer alten, längst vergessenen Bandaufnahme seiner Stimme lauscht, hörte er sich selbst sprechen, als wäre er ein Fremder.
»Ich brauche ein, zwei Tage, um darüber nachzudenken, okay? Ich nehme mir frei und versuche, es auf eigene Faust zu erledigen.«
»Aber wenn du es allein nicht schaffst, lässt du dir dann von mir helfen?« Sie sah ihm beschwörend ins Gesicht. »Wenn es gefährlich ist …«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wir sprechen später darüber.«
Im Laufe der nächsten Stunden tranken sie noch drei Runden, sprachen über nichts Besonderes und blieben schließlich bei den Einzelheiten der Schlappe in Florida hängen. Doch nichts davon konnte seine Gedanken vom Inhalt des Dossiers und Natalie Armstrong ablenken. Er trug kaum zum Gespräch bei. Zum Abschied sagte Mary: »Wenn du reden möchtest …«
»Sicher. Danke.« Jude blickte ihr hinterher. Er begriff, dass er Natalie mochte, weil sie ein kluger Kopf war wie Mary. Während er sein viertes Bier trank, wunderte er sich, warum er nie mit Mary ins Bett gegangen war. Plötzlich fühlte er sich einsam und fragte sich, ob sie es überhaupt gewollt hätte und warum er ausgerechnet jetzt darüber nachdenken musste, wo er bisher nie einen Gedanken an dieses Thema verschwendet hatte. Griff er in seiner Furcht schon wie ein Ertrinkender nach jedem Schemen in den Wellen, das entweder Treibholz oder Täuschung war? Und dann dachte er wieder an Fort Detrick, und in seinem Kopf herrschte völlige Leere.
Gegen elf Uhr hatte er noch immer keinen Plan gefasst, dessen Ausführung nicht unmöglich gewesen wäre, und niemand von den Leuten, die er beim Militär noch kannte, begriff auch nur ansatzweise, was er wollte, als er sie nacheinander anrief, um ein paar Fragen zu stellen. Darum, weil ihm nun jede Ablenkung recht war, buchte er einen Flug nach Atlanta.
Jude gab gerade die Einzelheiten in sein Tagebuch ein, als ihm bezüglich des Dossiers, das in seiner Wohnung lag, eine merkwürdige Möglichkeit in den Sinn kam. Sie war so offensichtlich, dass er sich fragte, weshalb er noch nie daran gedacht hatte. Angenommen, die Papiere befanden sich alle in einem Aktendeckel, weil sie sich alle auf einen einzigen Mann bezogen? Die Verbindung zwischen dieser Idee und dem Alkohol verursachte ihm Schwindel.
Er zahlte und ging eilig im Nieselregen, der gerade erst eingesetzt hatte, nach Hause.
Als Dan zur Klinik kam, fand er ein Chaos vor. Polizei- und Militärfahrzeuge blockierten die Zufahrt wie Baumstämme einen Schleusenkanal. Nachdem man ihn durchgelassen hatte, stellte er fest, dass die Korridore voller Menschen waren, die umherhetzten, sich gegenseitig in beide Richtungen winkten, und mit abgehackter Stimme stakkatoartig in Mikrofone und zueinander sprachen. Ihre Rufe hallten von den Wänden und der Decke wider und vermischten sich zu einem sinnlosen Getöse. Die Alarmsirenen waren abgeschaltet worden, doch die dadurch entstandene plötzliche Stille wirkte noch desorientierender, als es das Gekreische gewesen war. Das Fehlen von Lärm beunruhigte Dan. Aus Bruchstücken, die er hörte, schloss er, dass es eine Art Micromedica-Ausbruch gegeben hatte – eine Kontamination –, und dass Bobby X irgendetwas Schlimmes zugestoßen war.
Dans erster Gedanke war, Natalie zu suchen. Doch als er fragte, wo sie sei, sah ihn der Wachmann, der seine Personalkarte geprüft hatte, nur ausdruckslos an. »Melden Sie sich auf Ihrer Station und warten Sie auf Anweisungen.«
Dan musste sich auf die Lippe beißen, sonst hätte er dem kleinen Scheißer ins Gesicht gesagt, er solle ihn am Arsch lecken. Wenn solche Typen mal zwei Minuten das Sagen bekamen, hoben sie schon den rechten Arm. Sieg Heil! Dan nahm seine Karte zurück und schob sich durch die Menschen, die sich vor der Tür zum Therapie-Flügel drängten, wobei er auf mehr als einen Fuß trat.
Im Warteraum war eine vorübergehende Leitstelle eingerichtet worden, und dort sah er endlich bekannte Gesichter. Sie alle sahen blass und abgespannt aus. Niemand lächelte. Dazwischen standen zwei Beamte in Bio-Anzügen mit Luftreinigern in den Händen. Der Kopfschutz hing ihnen in den Nacken; wenn also wirklich die Gefahr bestanden hatte, dass aktives NervePath in die Luft entwichen war, so war sie bereits vorüber.
Er schnappte sich einen der anderen Pfleger, den er kannte, als der Mann an ihm vorüberging – Roscoe aus der NervePath-Neurochirurgie-Abteilung. »Was ist hier los?«
»Bobby ist weg. Vom Antlitz der Erde verschwunden. Er wurde gerade von Dr. Armstrong behandelt. Mit ihr ist auch irgendwas.«
»Was?« Dan packte Roscoe fester, obwohl der sich von ihm zu lösen versuchte und offensichtlich fortwollte. Sie hatten sich nie viel zu sagen gehabt. »Wo ist sie?«
»Q-1.« Roscoe wand sich frei und schüttelte Dans Hand ab. Er musterte ihn von oben bis unten und verzog den Mund. »Du solltest dir mal langsam überlegen, was du eigentlich willst, Connor. Du drückst den Durchschnitt. Sie ist viel zu gut zu dir gewesen.«
Dan holte Luft, nicht wegen der Beleidigung – er stand über dergleichen –, sondern wegen der Information. Er war noch immer im Mantel, und immer stärker ereilte ihn das Gefühl, zwei ungleiche Schuhe zu tragen, aber er machte sich nicht die Mühe nachzusehen. Wie sich herausstellte, hatte Roscoe Recht.
In der Beobachtungsgalerie von Quarantäne-1 traf Dan auf Schwester Charlton, die mit einem abwesenden Gesichtsausdruck in den Raum hinter der Scheibe blickte. Sie hatte die Arme eng an sich gezogen, als wollte sie sich vor dem Licht verkriechen.
Dan trat neben sie und hauchte seinen Gin-Atem leicht zur Seite. »Was ist passiert?«
»Ach, da bist du ja!« Sie lächelte fest, und zusammen blickten sie durch die Scheibe. »Sie schläft … das heißt, vielleicht liegt sie mehr in einem Koma.«
Dan betrachtete den kleinen Körper auf dem Bett und hätte nicht geglaubt, dass es Natalie war, hätte er nicht das kurze rote Stachelhaar gesehen, das sich grell vom weißen Kopfkissen abhob.
»Warum?«, mehr konnte er nicht sagen. Er bemerkte, dass er die Hände auf den Fensterrahmen gelegt hatte und sich dagegen stemmte.
»Weiß ich nicht«, sagte Charlton leise. »Irgendwas von wegen Kreuzinfektion.« Sie blickte Dan nervös an. »Ergibt doch überhaupt keinen Sinn, oder? Ich meine, sie war doch sowieso schon durch ihre Arbeit NP-gesättigt. Wenn welche freigesetzt worden wäre, hätte es ihr doch egal sein können, oder?«
Dan las die Monitoranzeigen. Nun wünschte er sich, er hätte sich genauer damit befasst, als er die Möglichkeit hatte. Natalie wirkte gesund; ihr Herzschlag war in Ordnung, ihr Blutdruck nur eine Winzigkeit zu hoch. »Sind die Dinger irgendwo angezeigt?«
»Dürfen sie nicht«, antwortete Charlton. »Nur wenn du einen Zugangskode hast, der höher ist als meiner, kommst du vielleicht an die Werte ran. Sie werden gerade im Hauptrechner aufgearbeitet, damit man herausfindet, was passiert ist. Wahrscheinlich solltest du dich da melden.«
»Wahrscheinlich.« Dan fummelte an seinem Pad, loggte sich ins Kliniksystem ein, gab seinen Notfallkode und die Passwörter zu den Scannern ein – es schien eine Ewigkeit zu dauern. Während er wartete, rief jemand Charlton über das Intercom an.
»Nein«, antwortete sie. »Keine Veränderung.«
»Wie lange ist es her?«, fragte Dan. Er vertippte sich und musste das Wort erneut eingeben.
»Erst ’ne halbe Stunde«, sagte Charlton. »Kommt mir wie ein verdammt übertriebenes Getue vor. Sie sagen, Natalie ist bewusstlos geworden. Sie war erschöpft. Du hast sie doch heute Abend gesehen. Wahrscheinlich muss sie einfach mal durchschlafen.«
Dan bekam endlich die Antwort, nach der er gesucht hatte. Er richtete seine schmerzenden Augen auf die Wörter und benötigte einige Sekunden, bis er begriffen hatte, was er sah.
»Ach du Scheiße«, wisperte er. Charltons Frage folgte ihm, während er durch die Tür flitzte und zur Zentral-Suite einbog. Das konnte unmöglich stimmen!
McAlister und Calum Armstrong bereiteten ihm einen weitaus kühleren Empfang. Er kam sich wie ein schmutziger, unrasierter, anrüchiger Verlierer vor, als sie ihn mit kalten, abgehackten Stimmen, die auch einem Roboter hätten gehören können, ins Bild setzten.
»… das Experiment sabotiert und einen Überlauf eines nicht eingeplanten Systems verursacht.«
»Es ereignete sich eine Art vorübergehender Austausch, bei dem das Programm auf Wirtssysteme übergesprungen ist - Natalies inerte NP-Strukturen wurden aktualisiert …«
»… verstehen die physikalischen Vorgänge noch immer nicht …«
Nachdem Dan sich ein, zwei Minuten lang ihr Gequatsche angehört hatte, begriff er, dass alles auf eines hinauslief: Natalie war mit einem aktiven Selfware-System infiziert worden – mit dem Zeug, das sie geschrieben hatte und das Dan für ein Rezept hielt, um sich selbst intelligenter zu machen; er hatte versucht, sie zu überreden, es übers Internet zu verkaufen. Die Selfware lief noch immer in ihr, und niemand unternahm etwas, um sie zu stoppen.
»… suchen nach dem primären Kandidaten …«
»Schnauze jetzt!«, überschrie Dan ihr Gefasel. »Halten Sie mal einen Moment die Klappe. Warum haben Sie die Dinger nicht stillgelegt?« Er wandte sich McAlister zu, dem einzigen körperlich Anwesenden, und ließ den Blick über den Bildschirm mit Armstrong Senior und einem anderen Mann schweifen, den Dan noch nie gesehen hatte.
»Weil es mit einem Passwort geschützt ist«, erklärte McAlister ihm blasiert.
»Und Sie knacken es nicht innerhalb von zehn Sekunden?« Dan konnte es nicht fassen. Er ging auf McAlister zu, packte ihn mit beiden Händen bei der Jacke und hob den kleinen Schleimer von den Füßen – und dabei fühlte er sich außerordentlich gut. »Stilllegen!« Über McAlisters Schulter hinweg funkelte er Armstrong an. »Herrgott noch mal, sie ist Ihre Tochter!«
Armstrong was totenblass. Dan hatte ihn noch nie so verstört erlebt. Er machte den Eindruck, als könnte er im nächsten Moment das Bewusstsein verlieren.
Der andere Mann, ein Kerl mit dichtem Bart, antwortete an seiner Stelle. »Wir arbeiten daran.« Er hatte einen schweren Akzent – welchen, wusste Dan nicht zu sagen.
»Lassen Sie mich los!«
Dan ignorierte McAlisters Gestrampel und schob ihn stattdessen an der Wand hoch, dass er sich den Kopf an einer Ecke von Armstrongs vielen Diplomen und Abschlusszertifikaten stieß. »Sie wollen bei jedem hier einen Ihrer schleimigen Finger im Arsch haben und jetzt behaupten Sie, Sie wüssten die Passwörter nicht?«
»Hier ist privates …«
»Na, der Häkelmann muss die Passwörter ja auch gekannt haben, stimmt’s? Wie konnte er sonst darauf zugreifen? Schon mal daran gedacht? Himmel, ich wette, sogar ich weiß, wie sie heißen …«
»Dann benutzen Sie sie gefälligst!«, brüllte Armstrong, und Dan sah ihm an, dass es ihm hundert Prozent ernst war.
»Es wäre ein nie da gewesener Bruch aller Sicherheitsvorkeh …«, begann McAlister, kaum dass seine Zehen wieder den Fußboden berührten.
Dan wirbelte ihn herum und schleuderte ihn auf den Schreibtisch, die Arme und Beine ausgebreitet, sodass er wie ein großer Seestern darüber rutschte und den Stifthalter beiseite fegte. Dan arbeitete bereits an seinem Pad und suchte nach einem Weg ins System.
Die Verteidigungsjungs waren nicht allesamt Mistkerle. Der »Experte«, der an Bills Platz arbeitete, half ihm, führte ihn in die richtigen Bereiche und hatte binnen kurzem die Editorbildschirme gefunden. Schweigen legte sich über den Raum, während Dan vor dem Pad saß und nachdachte. Er war sich längst nicht mehr so sicher wie noch vor zwei Minuten. Würde er einen monumentalen Schiffbruch erleiden und Natalies letzte Chance mit in die Tiefe reißen? Seine Hände zitterten.
Doch Dan kannte die Passwörter, denn Natalie hatte nur drei verschiedene und benutzte sie, um ihn daran zu hindern, Spiele auf ihrem System zu Hause zu spielen, wenn sie fort war. Wenn sie hier ein anderes genommen hatte … aber daran wollte er gar nicht denken.
Das zweite Passwort funktionierte. Es gestattete ihm Zugang in den Editor, und Dan sah zu, wie der Ingenieur rasch den Parameter INFINITY auffand und durch INTEGER: 1 ersetzte.
»Würde ich ihn auf null setzen, nachdem das Programm bereits aktiv ist, könnte es zu unvorhersehbaren Begleiteffekten kommen. Ich kann es nicht sagen, ohne mir die Daten, die zugrunde liegen, genauer angeschaut zu haben.« Bei dieser Erklärung zuckte der Ingenieur die Achseln, was verriet, dass er sich nicht sicher war, ob er große Hoffnungen in die Zahl 1 setzen durfte.
Doch Dan war es gleich. Eine einzige sinnvolle Änderung war besser als eine Milliarde Versuche.
Den ganzen Weg in den Korridor nach Q-1 ging er vor McAlister. Das Scanner-System übertrug die neuen Anweisungen, und Natalies vielfarbig lodernde Anzeigen erstarben zu etwas, das recht normal ausschaute.
»Alle Sicherheitssysteme sind augenblicklich zurückzusetzen«, sagte McAlister in das Mikrofon an seinem Revers, als Dan sich von den Anzeigen abwandte. »Richtig. Jedes einzelne.
Löschen Sie alles aus dem System und verhören Sie jeden Angestellten, bevor irgendwelche Rechte wieder erteilt werden.«
Dan schob Charlton sanft zur Seite, holte aus und versetzte McAlister einen Kinnhaken. Schmerz explodierte in seiner Hand. McAlister ging zu Boden und blieb dort. Sein Ohrhörer fiel heraus und glitt wie ein Wurm in seinen Kragen. Eine blecherne Stimme, gerade noch hörbar, drang heraus.
»McAlister? Alles in Ordnung bei Ihnen?«
Dan kniete sich neben den Liegenden, beugte sich zum Revers hinunter und sagte: »Mr McAlister braucht eine kurze Auszeit. Er meldet sich so rasch als möglich wieder bei Ihnen.«
Charlton stieß ihn mit dem Fuß an. »Danke«, hauchte sie und tätschelte Dan den struppigen Kopf.
»Wau, wau«, entgegnete er und besah sich seine blutverschmierte Hand. »Lassie zu spielen ist viel härter als ich dachte. Verdammt, ich glaube, ich muss zum Tierarzt.«
»Komm schon.« Sie half ihm auf. »Wir kümmern uns darum.«
»Ich kümmere mich darum, wenn’s recht ist.« Ein Militärpolizist, in Größe und Gewicht ungefähr mit einem Kampfpanzer vergleichbar, stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt. Er blickte auf McAlister, trat näher und legte Dan Handschellen an.
»Hier entlang bitte, Mr Connor.«
Ian Detteridge stand im Flur seines eigenen Hauses und betrachtete seine Frau, wie sie, die Hände vor den Mund geschlagen, vor ihm zurückwich. Doch so fest sie die Hände auch auf die Lippen drückte, ihre wimmernden Laute konnte sie nicht zurückhalten.
Detteridge blickte an sich herunter und entdeckte einen blassen Lichtschimmer, wo eigentlich seine Beine hätten sein sollen.
Etwas stimmte nicht. Er begriff es nicht. Sein Geist war wie der Wind. Er kam und ging sporadisch. Sein Körper war so blass und hauchdünn geworden, dass Luft und Licht ihn mühelos durchdrangen. Klammern konnte er sich nur noch an das bestimmte Gefühl, wer er war, aber nicht, was er war, und selbst das war unsicher geworden, denn er sah nun so viel mehr als zuvor, und was er erblickte, veränderte ihn.
»Dervla«, sagte er und versuchte, ganz regungslos zu bleiben. »Alles ist gut. Ich bin’s doch nur.«
Er lächelte und breitete die Arme aus. Er sehnte sich so sehr danach, dass sie ihn drückte und ihm sagte, alles sei in Ordnung. Dabei war er sicher, dass nichts in Ordnung war. Dieses Gefühl wollte einfach nicht verschwinden, und er fürchtete sich. Er konnte sich nicht erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Der Wunsch, dort zu sein, und die Anwesenheit dort waren ein und dasselbe. Sie besetzten den gleichen Augenblick.
»Nein«, wisperte sie und drängte sich gegen die Wand. »Heilige Maria Mutter Gottes. Geh weg. Bitte. Geh weg.«
Angesichts ihrer schrecklichen Furcht hätte er am liebsten aufgeschrien.
»Mommy?« Christine stand in ihrer Zimmertür. »Was ist denn los?« Sie klang sehr verängstigt. Sie blickte durch den Korridor auf ihn. »Das ist Daddy«, sagte sie erfreut. Dann aber legte sich gleiche entsetzliche Ungewissheit auf ihr Gesicht, die auch Ian spürte. »Warum ist er nicht wirklich da?«
»Ich bin hier«, wisperte er, hockte sich nieder und versuchte, sein fröhlichstes Gesicht aufzusetzen. »So wirklich, wie ich kann.«
In diesem kurzen Moment sah er die Frau, die Christine sein würde, widerstandsfähiger und intelligenter als er oder seine Frau, einfallsreich, aber immer knapp an Selbstwertgefühl, sodass sie zögerte, Gelegenheiten zu ergreifen und ein Leben lebte, das zwar lang war, aber leer, von Hoffnungen und Ängsten geprägt, die sie zwangen, sich ständig vor der Welt zu verstecken. Ihm wurde übel, mit so viel Mitleid erfüllte ihn die grausame, unvermittelte Vision – Mitleid für sich, für seine Tochter und für die ganze Welt voller Menschen, die nicht sehen konnten, was er sah: das innerste Nichts, aus dem sich alles ergoss, Augenblick für Augenblick erhob und verschwand, während sich davor das All öffnete und dahinter wieder schloss und sie ewig gestrandet auf der Messerschneide der Gegenwart zurückließ. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass sie sich nicht grämen müsse, ob sie gut genug sei. Alles war mehr als gut genug, in seinen Augen wie auch nach Ansicht des Universums.
Doch Christine blickte ihre Mutter an, die zitterte und kein Wort hervorbrachte und ihr nicht entgegenkam. Den Teddybär in den weichen Armen, die er niemals wieder spüren würde, fragte seine Tochter ihn kaum hörbar: »Bist du jetzt tot, Daddy?«
Und Ian begriff, dass er in jeder Hinsicht, auf die es ankam, tot war.
White Horse erreichte Judes Wohnung am Abend und schaute sich nach ihm um. Er war zurückgekommen, denn sie sah seine Koffer. Doch er war nicht da.
In jeder Sprache schimpfend, die sie kannte, ging sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm die Flasche Stolichnaya heraus. Sie schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug. Mit gefletschten Zähnen zerbiss sie das kalte Brennen, während sie sich nachschenkte. Auf dem Rückweg von Wo-auch-immer hatte sie im Auto einiges aufgeschnappt und wünschte sich nun, sie hätte weggehört. Was sie gehört hatte, machte ihr das Alleinsein ungeheuer schwer. Auf Jude zu warten wurde zur Folter. Sie fühlte sich, als wäre jeder Nerv in ihr durchbohrt und baumelte an einem eigenen Angelhaken, als hinge ihre Seele zum Trocknen aufgehängt und wäre dünner als ein Papiertaschentuch.
Sie trank das zweite Glas mit zwei Schlucken aus und nahm das dritte mit in das spießige, cremeweiße Wohnzimmer ihres Bruders, zum Sofa, das sie umfing wie eine Schneewehe, und schaltete eine Nachrichtensendung an. Ihre Verbrennungen verlangten schon wieder nach der nächsten Tablette, doch das Medikament vertrug sich nicht mit Alkohol, und den brauchte sie dringender als die Flucht vor den körperlichen Schmerzen. Trotz des Betäubungsmittels, dessen Wirkung langsam nachließ, kam es ihr vor, als schwebte sie so hoch wie ein Drachen im Herbst. Ich muss wieder runterkommen. Und den Schnaps muss ich mir einteilen, sonst brennt er mir ein Loch in den Kopf.
Und sie musste so weit nüchtern bleiben, dass sie ein Wörtchen mit Magpie reden konnte, wenn er endlich nach Hause kam. Sie nahm ein Kartenspiel, das im Zeitschriftenständer lag, und mischte. Sie wollte eine Patience legen, wollte sich selbst nicht schonen. Sie gab sich gerade zum zweiten Mal, als das Haus-System mit einer Milliarde idiotischer Signale auf eine eingehende Nachricht aufmerksam machte. Die Klänge von Beethovens Fünfter, als lahme Glockentöne gespielt, die so einfältig wirkten wie das Original aufregend, umgaben White Horse und verebbten, wie um schlechte Neuigkeiten anzukündigen. Wohin immer Jude gegangen war, er musste sein Pad abgeschaltet haben, und der Anruf wurde in seine Wohnung weitergeleitet.
Sie hörte zu, während der Anrufbeantworter die Mitteilung aufzeichnete:
»Äh … Jude, alter Knabe. Dan Connor hier. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich. Ich … also, ich wohne mit Natalie zusammen. Armstrong. Es hat Ärger gegeben. Äh … die Sache ist die, wegen dieser Frau von … na ja, das spielt auch keine Rolle, von irgendeiner Behörde ist sie, und sie hat mich nach Natalie gefragt und ich … ich habe ihr vielleicht Ihren Namen gesagt, das heißt, ich hab ihn vielleicht einmal erwähnt. Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber Sie sollten wissen, dass man Ihnen deshalb vielleicht ein paar Fragen stellen und … äh … ihr geht es bald wieder gut, wirklich. Sie geht nach Hause, wissen Sie, und bleibt ein paar Tage bei ihrem Vater, ja. Sie wird Spaß haben. Ich fand, Sie sollten das erfahren. Sie wissen schon. Okay. Oh, Ihre Nummer habe ich aus dem Autologger am Sorgentelefon, aber ich lösche sie jetzt wieder. Okay. Dann tschüss.«
White Horse blickte auf die Pik-Königin, die sie gerade aufgedeckt hatte. Wer mochte Natalie Armstrong sein, und was hatte sie mit der Sache zu tun? Und was für ein Sorgentelefon? Sie teilte sich noch drei Karten aus und drehte das Karo-Ass um. Sie spielte weiter, gab sorgsam und reihte die Farben aneinander.
Calum Armstrong war schon auf dem Rückflug nach England. Er trank einen schwarzen Kaffee nach dem anderen und horchte auf die Änderungen der Triebwerksgeräusche und das Vibrationsecho in seinem eigenen Körper, als die Maschine hoch genug war, um die Schallmauer zu durchbrechen. Sein Händezittern wollte einfach nicht nachlassen. Immer wieder dachte er an Charlotte, seine Frau. Aus dem Grab heraus musste sie ihn nun verfluchen, weil er zugelassen hatte, dass Natalie in diesen Mist verwickelt wurde und Guskow mit seiner Überzeugungskraft die Situation an sich riss. Er wusste schon jetzt nicht mehr zu sagen, wieso dessen Argumente ihm eigentlich so zwingend erschienen waren.
Er rieb sich die Schultern am Sitz, als versuchte er etwas abzuschaben. Nichts jedoch erlöste ihn von dem Gefühl, von Kopf bis Fuß vor Dreck zu starren. Natürlich nicht – und war es nicht interessant, dass man noch so viel von Psychologie verstehen konnte und dennoch ihr Spielzeug blieb?
Er nahm zwei Aspirin. Gegen seine Kopfschmerzen richteten sie rein gar nichts aus, das wusste er vorher schon. Da wusste er so viel – und doch hatte nicht er Natalie retten können, sondern dieser hinterhältige Trottel mit dem geckenhaften Haarschnitt. Dan, den Natalie sosehr mochte und den Job sicherte, obwohl ihn kein Labor der Welt einstellen würde. Calum kam der Gedanke, dass ihr Urteil vielleicht gar nicht sosehr daneben gelegen hatte, und er lächelte voll Stolz.
Mein Mädchen.
Was habe ich getan?
Gewiss, der Unfall war völlig unvorhersehbar gewesen. Was seine Ursache und die Ergebnisse des Selfware-Testlaufs anging - er glaubte den Berichten nicht. Unter dem Strich erbrachten sie nicht mehr als Hysterie und Augenzeugenaussagen, die viel zu verworren waren, als dass man ihnen etwas Sinnvolles entnehmen konnte. Menschen lösten sich nicht einfach in Luft auf. Jede Erklärung, die so etwas besagte, war reines Wunschdenken.
Armstrong stellte die Kaffeetasse auf den Unterteller und packte die Armstützen seines Sitzes so fest, dass er die Streben unter dem weichen Polster spürte.
Menschen verschwanden nicht. Das war eine Tatsache.
Natalie würde nicht verschwinden.
Oder?